Mal kurz an den Ladogasee, Oktober 2012
Tallinn - Narva - St. Petersburg - Schlüsselburg - Kronstadt - Tallinn
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So kann es gehen: manchmal ganz schnell. Der Stachel des so knapp verpassten Länderpunktes saß tief. Und schmerzte (hier geht es zum Bericht über meinen letzten Besuch in diesen Gefilden, wo ich mir den schmerzenden Stachel einfing).
Es war also lediglich eine Frage der Zeit, bis ich diese persönliche Schmach tilgen würde. Im August war in Narva, am russischen Schlagbaum vor Ivangorod noch Endstation.
Das wird sich diesmal ändern, denn diesmal habe ich weder Kosten noch Mühen gescheut und mir rechtzeitig ein russisches Visum bersorgt. Das Reisebüro Schneider in der Vahrenwalder Straße in Hannover hat mir dieses äußerst unkompliziert und zu einem fairen Preis innerhalb von zwei Wochen organisiert. Alles was das freundliche und kompetente Team des Reisebüros namens Schneider von mir benötigte, waren mein Reisepass, ein aktuelles Passfoto sowie 65 €.
Und so kommt es, dass ich mich Anfang Oktober mit dem Visum im Reisepass erneut auf den Weg an die russische Grenze begebe. Mit dem Ziel, diese diesmal auch zu übertreten. Legal!
Und wie kommt man am günstigsten dorthin? Richtig! Mit Rainer. Via Tallinn, von Bremen aus.

Tag1:
In aller Herrgottsfrühe klingelt der Handywecker. 2:35 Uhr. Eine nicht gerade angenehme Zeit, um aufzustehen. Aber was muss, das muss. Die neue Hüpferlitasche ist recht fix gepackt und so sitze ich um 3:00 Uhr im Auto und fahre im Schneckentempo Richtung Bremer Flughafen. Um 5:00 Uhr fahre ich in das Wohngebiet in Flughafennähe und kann zum ersten Mal ansatzweise nachvollziehen, dass die Anwohner alles andere als erfreut über die ihre Pkw hier kostenneutral abstellenden Fluggäste sind. Es ist unglaublich, aber nahezu alle, ja, wirklich alle Parkbuchten sind belegt. Überwiegend von Pkw mit auswärtigen Kennzeichen. Mit viel Glück finde ich dennoch einen Abstellplatz für den Benz, hoffe dass der Stern bei meiner Wiederkehr noch dran und kein weiterer Lackkratzer hinzugekommen sein wird, schultere die Hüpferlitasche und latsche los. Vor wenigen Wochen bei meinem letzten Besuch am Bremer Flughafen, war der McDonald's vor dem Ryanair Terminal noch eine Baustelle. Heute hat er auf. Und das bereits morgens um 5:30 Uhr. Entgegen meiner Prinzipien betrete ich das Etablissement und bestelle ein klassisches Frühstück. 3,29 € sind für zwei Brötchen, vier verschiedene Beläge und ein Heißgetränk zu entrichten. Das ganze nennt Ronald McDonald:"klassisches Frühstück“. Na dann. Hauptsache, ich habe etwas im Magen.

Eine Dreiviertelstunde vor angekündigter Abflugzeit betrete ich das Ryanair Terminal und staune nicht schlecht: die Warteschlange ist wieder einmal rekordverdächtig. Kein Wunder, denn innerhalb von 5 Minuten werden sage und schreibe drei Flüge abgewickelt. Morgens um circa 6:30 Uhr geht es dienstags zur Zeit nach Malaga, Tampere und Tallinn.

Wenigstens sind alle drei Schleusen der Sicherheitskontrolle geöffnet. Der Flieger nach Tallinn ist gut gefüllt. Ich bekomme trotzdem noch eine Dreierreihe ganz für mich alleine. Ich breite mich über alle drei Plätze aus und reise während des Fluges ins Dreamland.

Chef der Cabincrew ist heute ein alter Bekannter. Bekannt besonders für seine aggressiven Verkaufstätigkeiten. Spitzname: die Unke. Und die Unke legt auch wieder so los, wie ich sie kenne. Freut mich, denn je mehr Fluggäste sich Zusatzleistungen und Verpflegung aus dem Bordshop andrehen lassen, desto günstiger lassen sich für Leute wie mich derartige Kurztrips durchführen, desto niedriger sind die nackten Flugpreise.
Nach 1 Stunde und 45 Minuten lande ich zum dritten Mal innerhalb der letzten zwei Jahre in der estnischen Hauptstadt Tallinn. Wo es mir übrigens ausgezeichnet gefällt. Tallinn weiß schwer zu begeistern.

Noch mehr als ohnehin schon wird Tallinn mich im nächsten Jahr zu begeistern wissen. Denn ab 2013 ist die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel in der estnischen Hauptstadt komplett kostenlos. Noch schreiben wir das Jahr 2012, also besorge ich mir im Flughafen-Kiosk rasch die notwendigen Tickets. Zwei Einzel Fahrscheine à 1,- € sowie ein 24 Stunden Ticket für 6,- €. An der Bushaltestelle warte ich auf die Linie 2, die mich zwei Stationen stadteinwärts bringt. Zum Glück muss ich nicht lange warten, denn lange halte ich das dämlich-inkompetente Geschwätz der beiden Erasmus-Esel, die zu ihrer Uni nach Pärnu wollen, nicht aus. Die haben voll den Plan vom Baltikum und lassen alle Umstehenden lautstark an ihren Erfahrungsdefiziten teilhaben. Zurück zur Busfahrt gen Zentrum: wieso nur zwei Stationen? Nun, zwei Stationen weiter befindet sich der große, wohl sortierte Supermarkt namens Prisma.

Dort erwerbe ein leckeres Frühstückpaket sowie Proviant für die am Nachmittag anstehende ewig lange Busfahrt nach Russland. Doch das ist zunächst einmal Zukunftsmusik. Jetzt gilt es, die zur Verfügung stehenden Stunden in Tallinn bestmöglich zu nutzen.

Schon von Anfang an begeistern mich die im Internet zahlreich vorhandenen Fotos der extrem ostig-bronxig anzuschauenden Linnahall. Vollkommen unerklärlich, dass ich es bislang noch nicht geschafft habe diese morbide Sehenswürdigkeit genauer unter die Lupe zu nehmen. Heute ist Premiere. Die Straßenbahn der Linie 2 bringt mich zügig zur gleichnamigen Haltestelle.

Von dort aus latsche ich über das Tankstellengelände und stehe direkt vor der großen, beeindruckenden Treppe zur Linnahall (w). Bestens bekannt von "googlemaps".

Alter Schwede, das nenne ich mal eine geile Sehenswürdigkeit! Mir fehlen die Worte. Ich bin total geflashed. Ich inspiziere das gesamte Gelände und freue mich, hier zu sein.

Final suche ich mir eine einigermaßen bequeme Sitzgelegenheit, schlage Wurzeln und fülle Seiten. Das vor nicht allzu langer Zeit in Garmisch-Partenkirchen erworbene Tagebuch verliert heute seine Jungfräulichkeit. Der Passantenstörfaktor hält sich übrigens in Grenzen. Nicht allzu viele Leute scheinen sich für diesen Zeugen vergangener und Ewigkeiten entfernt scheinender Zeiten zu interessieren. Kurz: trotz der Nähe zur historischen Altstadt und zum Fährterminal ist hier nichts los.

Da ist sie, die "Neue"!
Kein Vergleich mit der altgedienten Schwester, dass weiß ich selbst...


Ein kurzes, aber extrem erfrischendes Kneipp-Bad in der Ostsee darf natürlich nicht fehlen!

Na ja: "fast nichts los" trifft es besser. Denn auf die wenigen äußerst krummen Gestalten die hier herum schleichen, würde ich dann doch lieber umso doller verzichten. Oder jeden der schrägen Vögel gegen zehn normale Passanten eintauschen. Geht nicht. Und so kommt es, dass ein aus drei offensichtlich russischsprachigen Eulen bestehender Pulk wenige Meter hinter mir in die Hocke geht und eine Spritze kreisen lässt. Alle drei Typen knien im Kreis, mit abgebundenen Armen und teilen sich mehrere Ladungen. Der Konsum alkoholischer Getränke in der Öffentlichkeit ist übrigens in Estland verboten. Die Tatsache, dass hier offenbar völlig schmerzbefreit Substanzen injiziert werden, lässt darauf schließen, dass es sich bei der Gegend rund um die Linnahall de facto um einen rechtsfreie, nicht kontrollierte bzw. von den Gesetzeshütern observierte Gegend handelt. Außer am hellichten Tag würde ich mich hier nie wieder blicken lassen, soviel ist mal sicher!

Wenig später gesellt sich ein vierköpfiger Alk-Pöbel dazu. Das vor meinen Augen hemmungslos gesoffen wird, wundert mich nicht. Dass die drei Junkies jedoch völlig gleichgültig und offensichtlich weggespult direkt vor meinen Augen weitere Injektionen verabreichen, lässt mich dann jedoch definitiv nicht kalt. Und dass diese mich und die Hüpferlitasche äußerst interessiert beobachten, natürlich ebenfalls nicht.

Für mich gibt es jetzt nur eine Devise: Land gewinnen, den Abflug machen. Und zwar schnell! Meine Aufenthaltszeit in Tallinn neigt sich ohnehin unaufhaltsam und rasant dem Ende zu, also latsche ich schnellen Schrittes zurück zur Straßenbahnhaltestelle, wobei ich mich immer wieder spontan umdrehe und erleichtert feststelle, dass mir niemand folgt.
Die Gegend rund um die Linnahall, das recherchiere ich später, ist übrigens ein stadtbekannter Treffpunkt für Drogensüchtige aller Art. Alles andere als ein empfehlenswerter Asselplatz also. Dennoch sollte man die derbe "Sehenswürdigkeit" zumindest einmal in Augenschein genommen haben. Wiegesagt: am hellichten Tag natürlich!

Kaum sitze ich in der Straßenbahn zum Busbahnhof, fängt es an zu regnen. Das nenne ich mal Timing. Eine Viertelstunde vor Abfahrt des Busses nach Sankt Petersburg bin ich am Tallinner ZOB (landessprachlich: Bussijaam) angekommen. Der gelbe Scania-Reisebus aus dem Hause Simple Express steht auch schon zur Abfahrt bereit.

Pünktlich um 15:00 Uhr geht die lange Reise los. Ich hasse Busfahren, doch an eine Fahrt mit der Eisenbahn war aufgrund fehlender (ein-zwei pro Tag) Verbindungen und aufgrund exorbitanter Preisforderungen verglichen mit den sensationellen Frühbuchertarifen des Busunternehmens nicht zu denken. Heute zahle ich schmale zwölf Euro für den insgesamt siebenstündigen Ritt nach Sankt Petersburg (w). Das nenne ich mal preiswert!

Im Bus habe ich einen Gangplatz. Neben mir sitzt eine Mutti, die permanent schläft und von schmaler Statur ist, was mir ausreichend Platz zum Ausbreiten beschert. Die Fahrt bis Narva dauert heute wieder gut zweieinhalb Stunden und ist langweilig. Kurz vor den Toren der Grenzstadt ändert sich das natürlich. Die Spannung steigt angesichts des nun unmittelbar bevorstehenden Grenzübertritts unweigerlich. Doch ehe es soweit ist, hält der Bus noch ein paar Minuten am Busbahnhof von Narva, wo es mir vor fast zwei Monaten so außerordentlich gut gefallen hat.

Dann setzt sich der Bus in Bewegung und stoppt vor dem Schlagbaum der Esten. EU-Außengrenze, da können die Formalitäten eine Weile dauern. Ein Beamter betritt den Bus und sammelt, nach strenger Gesichtskontrolle, die Pässe ein. Überflüssig zu erwähnen, dass rund um mich herum nur russische Pässe den Weg in die Hände des Grenzbeamten finden, oder? Im Anschluss geschieht etwa 20 Minuten lang rein gar nichts. Es ist jedoch interessant zu wissen, dass man rund um die estnische Grenzabfertigunganlage in Narva über kostenfrei nutzbares WLAN verfügen kann. Und so nutze ich die Wartezeit um eine Weile in den Weiten des Internets zu surfen und den Lieben daheim Nachrichten über die aktuelle Lage und mein persönliches Befinden zukommen zu lassen. Zudem erkunde ich mich um das Befinden meiner Lieblingsvereine, RWE und SK Rapid. Nichts neues, keine Nachrichten können bekanntermaßen auch gute sein. Nach wie gesagt 20 Minuten kommt der Grenzbeamte wieder in den Bus und verteilt die zuvor eingesammelten Reisedokumente. Die Schranke geht nach oben, der Bus setzt sich in Bewegung und ich fahre über die damals so sehnsüchtig angeschmachtete Grenzbrücke der E20. Am ersten russischen Schlagbaum steigt ein Grenzer in den Bus und wirft einen flüchtigen Blick auf die Pässe der Insassen. Danach verlässt dieser wieder den Bus, drückt auf einen Knopf, der die Schranke nach oben gehen lässt und winkt dem Busfahrer zum Abschied. Die beiden scheinen sich zu kennen. Wir passieren einen Duty Free Shop (bei der Reiserichtung EU-Russland scheint ein Stopp keinerlei Sinn zu ergeben, also findet auch kein solcher statt.. )und kommen wenige Meter später vor einem großen Abfertigungsgebäude zum Stehen. Nun muss jeder Reisende sein gesamtes Gepäck an sich nehmen, aussteigen und sich in die Reihe der Wartenden stellen. Die Kontrolle erfolgt oberflächlich. Ich überreiche der herrlich ostigen Beamtin meinen Reisepass samt russischem Visum sowie die zuvor ausgefüllte, aus zwei Abschnitten bestehende Migrationskarte. Sieh an, die Dame hat nichts zu beanstanden, drückt den Stempel in den Pass und gibt mir den bei der Ausreise abzugebenden Migrationscoupon in die Hand. Die eine Hälfte der Karte für die Dame, die andere für mich. Ganz einfach. Mit den mahnenden Worten, diesen Abschnitt bloß nicht zu verlieren, entlässt mich die Grazie nach Russland. Yeah Baby! Okay, Madame: dein Wort ist mir Befehl, ich werde den Abschnitt hüten wie meinen Augapfel.

Jedenfalls fast ebenso.

Und so betrete ich wenige Atemzüge später zum ersten Mal in meinem Leben (offiziell) russischen Boden. Wenige Minuten später ist das Gepäck wieder im Bus verladen, sind die Passagiere eingestiegen und es kann weitergehen.

Kurz vor dem Ortseingang von Iwangorod hält der Bus erneut an einer Schranke. Eine ansehnliche Beamtin steigt ein, kontrolliert routiniert die russischen Pässe und bleibt irritiert stehen, als sie meinen deutschen Reisepass sieht. Diesen Exoten muss sie verständlicherweise ganz genau inspizieren und scannen, ehe sie mir ihn lächelnd zurückgibt. Wenig später geht zum dritten Mal auf russischer Seite die Schranke hoch. Durch Iwangorod (die Grenzstadt weiß auch ohne Tageslicht zu gefallen) geht es via Kingisepp (w) in die viertgrößte Stadt Europas, nach St. Petersburg.

Um 22:00 Uhr Ortszeit verlasse ich den Bus in Sankt Petersburg. Am Baltischen Bahnhof (w). In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, dass die Uhren in Sankt Petersburg, verglichen mit jenen in Hannover, um 2 Stunden vorgestellt werden müssen. Und dass sich lediglich im Inneren des Bahnhofsgebäudes Bankomaten befinden. Die ersten drei Automaten sorgen dafür, dass weitere graue Haare auf meiner Rübe hinzukommen. Keiner von ihnen will meine EC Karte akzeptieren, geschweige denn Rubel ausspucken. Nun stehe ich also da, im sprichwörtlich kurzen Hemd. Panisch probiere ich jeden der Geldautomaten aus. Am mittlerweile fünften erklingt das beruhigende Rattern und ich kann 50,- € in russischen Rubel, d.h. 2.000,- von diesen, in Empfang nehmen. Am Eingang zur Metro Station befindet sich ein Schalter in welchem man Jetons für die Nutzung der U-Bahn erwerben kann. Ein Jeton kostet 27,-Rubel und berechtigt zur quasi grenzenlosen Nutzung des Metronetzes der Stadt. Solange man keine Metrostation verlässt, ist der Jeton gültig. Es ist also egal, ob man nur 5 Minuten und eine Station oder etwa 50 Minuten und 15 Stationen fährt. Man kann auch umsteigen, so oft man will/muss. Es gilt bei der Nutzung der St. Petersburger Metro unbedingt zu beachten, dass die Stationen sehr weit auseinander liegen. Und dass es unter Umständen eine Weile dauert, bis man von der Erdoberfläche bis zu den Metrogleisen gelangt ist. Aufgrund problematischer Bodenbeschaffenheit liegen die Metrostationen nämlich sehr tief unter der Erde. Befremdlich sind die kleinen Buden am Fuß der endlosen viedoüberwachten Rolltreppen, in denen uniformierte Beobachter sitzen. Diese kontrollieren den reibungslosen An- und Abtransport der Menschenmassen und drücken im Falle eines Falles die Stopp-Taste oder schalten eine andere Rolltreppe frei oder aber eine aus und dann bezogen auf die Fahrtrichtung um. Auf jeden Fall wichtige Leute.

Via Admiraltätskaya (zuvor in Spasskaja umgestiegen aus der M2 in die M5) erreiche ich den Newsky Prospect (w) und werfe einen Blick auf die Eremitage. Von hier aus sind es nur knapp fünfzehn Gehminuten zur Herberge meines Vetrauens bzw. Budgets, dem Hotel Newsky Breeze in der Galernaya Ulitza. Der Check In ist schnell erledigt. Die Anmeldung bei den lokalen Behörden erfolgt durch die Unterkunft und ich will nur noch eins: in mein Zimmer und pennen.
Mache ich dann auch so. Innerhalb weniger Sekunden reise ich fix und foxy ins gute alte Dreamland.

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