Trip in den ganz hohen Norden - auf zur Traumerfüllung am Außenposten russischer Kultur und Zivilisation in der Arktis, Juni 2014
Kopenhagen (Amager, Kastrup) - Oslo Gardermoen - Longyearbyen - Nybyen - (Esmarch Gletscher) - Barentsburg - (Grumant) - Eidsvoll
Tag1 - Tag2 - Tag3 - Tag4
- Tag5 - Tag6

Tag3:

Aufgrund der miesen Auslastung des Hotels in Barentsburg erlaubt mir die Rezeption, bis zum Ablegen des Bootes nach Longyearbyen im Zimmer zu bleiben bzw. meinen Kram da drin und meine nicht mehr (jedenfalls nur kaum) kaselnden Klamotten weiter auf dem Powerheizkörper trocknen zu lassen. Also wache ich ohne Wecker erst gegen 10.30h auf und schiebe die gut abdunkelnden Vorhänge zur Seite. Sieh an, das Wetter hat sich seit gestern um 180° gedreht. Niesel- bzw. Schneeeregen und leichter, dafür eisiger Wind. Eilig habe ich es nicht, einen weiteren Spaziergang durch Barentsburg zu starten. Nach einem Bad und einer Runde russischen Schrottfernsehens steige ich in meine volle Montur und latsche eine weitere Runde durch den Außenposten russischer Zivilisation in der Arktis. Fotos reduziere ich nach dem gestrigen Bericht mal lieber aufs Minimum (jedenfalls bezogen auf deren Anzahl), abgesehen davon habe ich ja schon fast alles relevante, beinahe jedes Gebäude geshooted.

Nach dem Rundgang sehe ich, dass die Brauerei Barentsburg geöffnet hat und traue mich hinein.

Brauerei in Barentsburg
Brauerei in Barentsburg

Was heißt hier "ich traue mich hinein"? Seit wann fürchte ich mich vor Gaststätten? Nun, von außen ist wie gesagt nur schwer zu erkennen, dass in dem frischrenovierten zweistöckigen Gebäude mit hölzerner Fassade etwas vor sich geht außer dem berühmt-berüchtigten "Dance Of The Deaths". Aber immerhin brennt Licht, unten vor der Eingangstür weist ein kleines laminiertes Schild auf die Existens des Brauereibetriebes hin und auch von innen macht alles einen zwar ausgestorbenen, dafür aber nigel-nagel-neuen Eindruck. Und so schleiche ich die Treppe hinauf und werfe einen Blick in den Gastraum, in dem sich eine Servicekraft langweilt. In der Küche kann ich einen Koch samt Helferlein ausmachen. Hm, irgendwie komme ich mir immer seltsam vor als einziger Gast. Egal, ich werde vermutlich nicht so schnell wenn nicht nie wieder hierher kommen also rein da. Erst müssen im Vorraum die Luftschuhe ausgezogen werden, dann steht auch auf einmal die Kellnerin vor mir und fragt mich, ob ich nicht eintreten und mich pflanzen will. Kaum sitze ich, fragt sie nach meinem Getränkewunsch. Drei verschiedene Medved- bzw. "Bären"biere werden serviert. Durchprobieren will ich mich nicht, keine Lust auf ´ne rotte Rübe und Ale und Weißbier ist eh nicht so mein Fall. Zack, schon steht die dritte der Barentsburger Biersorten in einem Halbliterglas vor mir und ich gebe zu, dass die Variation Pilsener Styles gut schmeckt. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die Brauerei mit Unterstützung belgischer Experten errichtet wurde.

Tresen in der Brauereigaststätte, Barentsburg (Svalbard bzw. Spitzbergen)
Tresen in der Brauereigaststätte, Barentsburg (Svalbard bzw. Spitzbergen)

Die junge Servicefrau ist sehr höflich und ansehnlich, wirkt aber unsicher. Versucht dennoch, mich davon zu überzeugen, etwas zu essen zu ordern. Ich muss leider passen, denn die an norwegische bzw. touristische Dimensionen orientierten Preise schrecken nicht nur die Locals, sondern auch mich ab. Und so bleibt es bei einem halben Liter Barentsburger Pils, der mit 25,- NOK berechnet wird. Jede der Drei Biersorten hat einem Spitzbergener Gestz wegen einen maximalen Alk-Gehalt von 2,5%. Geschmack geht eben doch ohne oder mit wenig Prozent, wenn man´s kann. Und die Brauer in Barentsburg können es.

Was ich nicht raffe: die Brauerei samt Gastraum und Küche sind nicht nur topmodern und fertig, sondern auch hundert Pro attraktiv für hin und wieder durch den Ort latschende gelangweilte Touri-Gruppen. Wieso kann man selbst als Insider nicht ansatzweise erkennen, was in dem Gebäude auf einen wartet? Man geht auf der Standardroute genau an der Brauerei vorbei und bekommt davon nichts mit. Ich fasse es nicht. Dazu passt ins Bild, dass weder die Brauerei noch das Hotel Barentsburg über eine Internetseite verfügt. In Barentsburg liegt definitv einiges an nicht nur touristischem Potential brach. Und mir kommt es so vor, als ob man sich über eine vernünftige Abfolge der Schritte keine qualifizierten Gedanken gemacht hat. Am Brauereigasthof von Barentsburg laufen die Touristen vorbei, weil sie dessen Existenz gar nicht mitbekommen. Die Locals machen einen Bogen darum, weil die Preise aus deren (wie meiner) Sicht einfach zu überzogen sind. Ergebnis: eine Menge Kohle wurde investiert (nach derzeitigem Stand: versenkt) und mindestens drei junge, motivierte Angestellte stehen sich frustriert und derbst gelangweilt die Beine in den Bauch. Glückwunsch, Trust Arctigukol.
Die hätten mal besser mich gefragt wie man sowas von Anfang bis Ende durchplant und organisiert, hömma!

Mangels Alternative kehren die Touristengruppen im Hotelrestaurant ein. Auch ich beehre noch rasch das Etablissement, dass sich gegenüber meinen im Laufe der vielen Jahren gesammelten Internetimpressionen optisch stark verändert hat. Objektiv sicher zum besseren, nämlich ebenfalls zu einem topmodernen, sauberen und gediegenen Gastronomiebetrieb. Für Freunde des Ost-Styles wie mich ist die Aufwertung eine Abwertung. Dazu passend gibt es die Bar 78 leider nicht mehr. Vielleicht wurde sie auch der Gesamtfläche des Restaurants einverleibt, so genau weiß ich das nicht, habe die Bar 78 in Barentsburg nur auf Außenfotos und nicht von innen gesehen. Was soll´s, ein Kurzaufenthalt ist jedenfalls auch für mich Pflicht und so pflanze ich mich mit Blick auf das Treiben am Tresen auf einen Barhocker und trinke noch ein Barentsburger Pils sowie eine kühle Coke.

Bartheke im Hotelrestaurant, Barentsburg
Bartheke im Hotelrestaurant, Barentsburg (unten rechts im Kühlschrank stehen die Kuriositäten: Krombacher Radler und Veltins in Halbliterdosen zum Preis von sage und schreibe 30,- NOK)

Kaum werde ich mir der Lokalität bewusst, kaum entwickelt sich einigermaßen Style, kaum driften meine Gedanken ab, schon werde ich aus meiner eigenen Welt herausgerissen. Die Tagesausflügler aus Longyearbyen sind da und [bei dem nach mitteleuropäischer Definition miesem Kackwetter sowie (vermeintlich, wie wir wissen) mangels Alternative logisch] erobern laustark die Bar. Schade, bei dieser Kirmesatmosphäre muss ich schneller gehen, als ich eigentlich will. Hätte gern noch Gedanken nachgehangen und mir diesen Ort intensiver reingezogen. Kurz bevor ich weiterziehe, treffe ich den Typen von der Rezeption und unterhalte mich über die touristischen Ambitionen Barentsburgs. Sehr interessant. So ist z.B. ein auch Besuchern zugänglicher Lebensmittelshop geplant (ich vermute in dem wird man dann zu gleichen Preis mehr oder weniger das gleiche Sortiment wie an der Bar, nur in größerer Auswahl vorfinden) und irgendwann mal werden auch Marketing- und Internetaktivitäten auf der Agenda stehen. Es wird deutlich, dass der Trust gewillt ist, anständig Geld in die Hand zu nehmen, wie man ja am Hotel, der Brauerei und den allgegenwärtigen Bauarbeiten im Ort sieht.
Na dann, da bin ich ja noch happier als ohnehin schon, dass ich es jetzt endlich hierher gepackt habe und nicht erst in paar Jahren, wenn vermutlich noch mehr Style vernichtet worden sein wird. Styles en masse gibt es auf der Veranda der meinerseits gestern ins Herz geschlossenen leerstehenden Villa mit Blick über den Barentsburger Hafen und den Isfjord, also nichts wie hin da. Eine knappe halbe Stunde zum Abasseln wird mir dort bleiben, wenn ich mich jetzt spute. Denn die Abfahrtszeit des Schiffes von Barentsburg aus zurück nach Longyearbyen aus dem Hause Henningsen ist gemäß eines im Restaurant befragten Ausflüglers auf 15:10h terminiert. Mein Tacho zeigt 14:30h also nichts wie ab!

Blick zurück auf das Hotel Barentsburg, Barentsburg, Spitzbergen
Blick zurück auf das Hotel Barentsburg, Barentsburg, Spitzbergen

Ich hole mir den Stuhl aus der Küche, stelle ihn so wie gestern auf die überdachte, vorm von leichtem Schnee- zu Dauerregen mutierten Veranda und lasse die Haustür wieder einen Spalt weit auf. Wer wohl die Heizkosten bezahlt? Von hinten wohlige Wärme, über mir ein schützendes Dach, unter mir ein bequemer Stuhl und vor mir der Barentsburger Hafen samt Isfjord. Bereits gestern stellte ich fest: mehr geht nicht! Das gilt auch für heute. Nur dass ich heute keine Zeit zum Seitenfüllen habe. Intensivst-Stylen ist angesagt.

Barentsburg: Blick von der Veranda der leerstehenden Villa mit Meerblick auf die abfahrbereiten Schiffe (rechts das von Polarcharter, links das von Henningsen) zurück nach Longyearbyen
Barentsburg: Blick von der Veranda der leerstehenden Villa mit Meerblick auf die abfahrbereiten Schiffe (links das von Polarcharter, rechts das von Henningsen) zurück nach Longyearbyen

Schweren Herzens nehme ich Abschied von Barentsburg. Vermutlich für immer, es sei denn eines der folgenden Ereignisse tritt ein:
a) ich gewinne im Lotto (unrealistisch, da ich Glücksspiel kacke finde)
b) Henningsen Transport oder Polarcharter schenken mir eine Longyearbyen - Barentsburg Card 100
c) Barentsburg baut seinen Heliport um und aus und lässt Linien- oder gar Charterflieger landen

Es sieht also so aus, als würde ich diesen faszinierenden Ort nicht wiedersehen und das ist mir in aller Tragweite bewusst. Aber wie heißt es noch? Genau, wenn es am schönsten ist, soll man... . Also steige ich die Treppe hinunter und verabschiede mich von Barentsburg. Wohl fühle ich mich nicht dabei. Aber immerhin habe ich diesen sensationell abgelegenen, geschichtsträchtigen und massiv im Umbruch befindlichen Ort gesehen, ehe es (vielleicht) zu spät ist. Ja, ich habe mir einen Traum erfüllt und niemand kann ansatzweise nachvollziehen, wie sehr diese Erfahrung, wie extrem diese Stadt mein Inneres bereichert hat. Danke Barentsburg!

Barentsburg, Treppe vom Hafen in die Stadt hinauf
Barentsburg, Treppe vom Hafen in die Stadt hinauf

Es ist nicht die Langöysund, die mich von Barentsburg nach Longyearbyen bringt. Es ist die MS Billefjord. Mit Personal, wie auch auf der Langöysund (Hinfahrt) von weit her. Fragwürdige Personalpolitik (Bericht dazu). Bei der MS Billefjord kann man eher von einem Schiff, als von einem Boot sprechen. Erinnert mich an einen der Fördeschiffahrts-Dampfer in Kiel.


DIe MS Billefjord im Hafen von Barentsburg

Ich lege die neue Hüpferlitasche ab und stelle mich hinten ans teils überdachte Heck.

Die neue Hüpferlitasche an Bord der MS Billefjord
Die neue Hüpferlitasche an Bord der
MS Billefjord

Zack, schon legt sie ab, die MS Billefjord.

Lebe wohl, Barentsburg
Lebe wohl, Barentsburg

Barentsburg ist nicht mehr in Sicht und so lasse ich die arktische, eindrucksvolle Landschaft an meinem Auge vorüberziehen, während ich mich mit dem Guide angeregt unterhalte. Und das stundenlang.

Auf dem Isfjord unterwegs von Barentsburg nach Longyearbyen
Auf dem Isfjord unterwegs von Barentsburg nach Longyearbyen

So erfahre ich einiges von der Gegend und auch von der verlassenen russischen Minenstadt Grumant (w), an der wir vorbeikommen und kurz in den Dümpel-Modus wechseln, während der Guide sein Wissen verbreitet. Netter, cooler Typ mit sympathischen Ansichten. Grumant gefällt mir. Die Wanderung von Longyearbyen aus nach Grumant könnte ich wohl im Sommer locker an einem Tag schaffen - doof nur, dass ich das wegen der Eisbärgefahr keinesfalls ohne Gewehr durchziehen kann. Zwar kann man sich unter gewissen Umständen (hier nachzulesen) eine Flinte vom Sysselmannen (w) oder besser gesagt privaten Anbietern borgen aber das ist mir zu umständlich und, wie fast alles in diesen Gefilden, nicht ganz billig.

Auf dem Isfjord unterwegs von Barentsburg nach Longyearbyen
Auf dem Isfjord unterwegs von Barentsburg nach Longyearbyen
Auf dem Isfjord unterwegs von Barentsburg nach Longyearbyen
Auf dem Isfjord unterwegs von Barentsburg nach Longyearbyen
Grumant
Grumant
Grumant
Grumant
Vogelfelsen zwischen Grumant und Longyearbyen
Vogelfelsen zwischen Grumant und Longyearbyen

Grumant. Hätte ich derbst Bock drauf. Ist aber nicht drin. Und so steuert das Boot aus dem Henningsen-Stall unaufhaltsam Longyearbyen an. Ich hätte in BB bleiben sollen, Mist. Ich, richtig, hasse Mist.

Kommandostand des Bootes von Barentsburg nach Longyearbyen
Kommandostand des Bootes von Barentsburg nach Longyearbyen
Longyearbyen, Hafen
Longyearbyen, Hafen
Der "Turbus" wartet schon bei der Ankunft in Longyearbyen und wird mich rasch nach Nybyen befördern
Der "Turbus" wartet schon bei der Ankunft in Longyearbyen und wird mich rasch nach Nybyen befördern

Heute gönne ich mir echten Luxus und verzichte auf den Schlafsaal im Gasthaus 102.. Ich beziehe ein DZ zur Einzelnutzung im Spitzbergen Guesthouse und bleche zähneknirschend roundabout 70,- (!) €-Tacken pro Nacht. Für ein lüttes Kämmerlein ohne Glotze, mit Gemeinschaftsdusche und extra zu bezahlendem Wifi. So ein Mist. Jeder weiß längst, was ich von Mist halte. Egal. Duschen und vorerst ohne Wlan (kostet eine Menge Kohle extra) nichts wie ab ins Dreamland.

Weiter zu Tag4